Text/Simon Gisler, Foto/Wang Xiaoding, Tianjin
„Wissen alleine genügt nicht, sondern Du musst es können!” Rudolf Jany weiß, wovon er spricht. Der 67-jährige Niedersachse befasst sich schon seit 40 Jahren mit dem Flugzeugbau. Bis zu seiner Pensionierung war Jany Ausbildungsleiter bei Airbus in Hamburg. Seit 2011 ist er als Ausbilder und Berater an einem chinesisch-deutschen technischen Berufsausbildungscollege in Tianjin tätig.
Herr Jany, Sie stammen aus Niedersachsen, sind aber seit 2011 am Sino-German Vocational Technical College in Tianjin tätig. Was hat Sie nach Nordchina geführt?
Hergekommen bin ich durch die Verbindung von Airbus zu Tianjin. Es hieß, wir müssten hier die Auswahl und die Qualifizierung des Personals vornehmen. Da ich Ausbildungsleiter in Hamburg war, hat man mich angesprochen. Mein Team hat hier dann die praktischen und theoretischen Tests durchgeführt. Dann holten wir noch die Lufthansa an Bord, weil sie mit ihrer fachlichen Ausbildung im Ausland gute Erfahrungen gemacht hat und wir nicht über genügend Ausbildungspersonal verfügten. Wir waren aber regelmäßig zum Auditieren hier und haben überprüft, ob die Lufthansa fertigungsgerecht in unserem Sinne das Training durchführt. Im Jahr 2011 suchten die Verantwortlichen des College schließlich einen Ausbildungsexperten aus dem Luftfahrtbereich, um hier die Fachrichtung Flugzeugbau, Flugzeugmechanik und Flugzeugelektrik aufzubauen. Da sie sich noch immer an mich erinnerten, wurde ich gefragt, ob ich ihnen bei der Organisation und bei den Einrichtungen helfen könnte. Seither bin ich hier als Ausbilder und Berater tätig.
Auf ihrer Webseite bezeichnet die Fachhochschule ihr Ausbildungsmodell als „Sino-German”. Was genau ist an diesem Ausbildungsmodell deutsch?
Das Tianjin Sino-German Vocational Technical College ist vor knapp 30 Jahren mit deutscher Entwicklungshilfe gegründet worden. Mit Unterstützung von Experten aus Deutschland wurde danach eine Schule nach dem Vorbild der deutschen Berufsausbildung aufgebaut. Das College hatte damals bloß einige Hundert Schüler. Heute sind es 10.000. In Zukunft sollen es sogar 15.000 sein! Da das College mit deutscher Entwicklungshilfe entstand, wurde hier auch Deutsch als Unterrichtssprache eingeführt. Man kann hier also Deutsch lernen, es gibt deutsche Klassen. Die Kombination Deutschland und deutsche Klassen ist der Grund für die Bezeichnung „Sino-German”.
Was hat das deutsche Berufsausbildungsmodell, was das chinesische nicht hat?
Das deutsche Berufsausbildungsmodell beruht auf der Zusammenarbeit zwischen den Betrieben und den staatlichen Berufsschulen. Die Betriebe finanzieren die Ausbildung und tragen eine wesentliche Verantwortung. Die Berufsschule ist gleichberechtigter Partner. Sie liefert die Kenntnisse, die erforderlich sind, um einen Beruf vollständig auszuüben. Diese zwei Säulen – die Betriebe und die Berufsschulen – sind entscheidend für das Gelingen der Ausbildung. Das nennen wir „Duale Berufsausbildung“.
Großbetriebe wie Airbus könnten Schulinhalte in einem gewissen Rahmen auch selbst vermitteln – etwa im Werkunterricht. Da der Staat aber die Kenntnisvermittlung übernimmt, hat man sich in Deutschland für die duale Ausbildung entschieden. Im Rahmen dieser Zusammenarbeit verpflichten sich beide Seiten zu einer Lernortkooperation. Letztendlich bedeutet das, dass die deutschen Lehrer die Betriebe aufsuchen, um dort regelmäßig über Inhalte zu sprechen – und zwar nicht als Gast, sondern als Partner. Dies gilt auch analog für das betriebliche Ausbildungspersonal. Themen, die mehr praxisorientiert sind, werden von den Betrieben übernommen, mehr theorieorientierte Bereiche von der Schule. So gibt es auch außerhalb des Lehrplans Formen der Zusammenarbeit. Das ist ganz entscheidend. In Deutschland erfolgt die Ausbildung fast immer im Betrieb. Ohne den Betrieb geht nichts.
Und wie funktioniert die Berufsausbildung in China?
Hier in China gibt es staatliche Einrichtungen, staatliche Schulen. Deutsche Betriebe wie Volkswagen haben inzwischen erkannt, dass das so nicht optimal ist und bilden selbst aus – und zwar nach ihren eigenen Bedürfnissen.
In Deutschland sieht die Ausbildungsverordnung eine übergreifende, staatsbürgerliche Ausbildung vor. Die Auszubildenden sollen auch etwas über die Gesetze, die Regeln und das soziale System kennen lernen. Sie sollen wissen, was ein Betriebsverfassungsgesetz, eine Krankenversicherung und eine Berufsgenossenschaft ist. Oder wie man sich bei einer anderen Firma bewirbt. Junge Menschen sollen so ausgebildet werden, dass sie sich in ihrem beruflichen Leben zurechtfinden. Der chinesische Staat sieht das auch vor, aber es wird nicht so richtig praktiziert.
Unternehmen wie Airbus, Siemens oder Lufthansa legen neben der fachlichen und handlungssorientierten Ausbildung auch großen Wert auf die Schlüsselqualifikationen, das heißt Kommunikation, Kooperation, Selbständigkeit und Eigenverantwortung – all das, was man im Zusammenhang der Teamarbeit braucht. Einzelkämpfer sind nicht so sehr gefragt, sondern teamfähige Leute. Hier findet diese Förderung so wie wir sie kennen nicht statt. Zumindest habe ich sie noch nirgends gesehen.
Welchen Stellenwert hat die Berufsausbildung in China?
Leider gibt es an dieser Schule inzwischen einen Drang hin zum Akademischen. Es wird gerne über Fachhochschule und Bachelor-Abschluss gesprochen. Vom Master will ich gar nicht erst reden. Das widerspricht meiner Erfahrung in der Berufsausbildung. Chinesen wollen alle scheinbar Bürojobs. Praktische Tätigkeiten will keiner mehr ausüben – auch die Eltern nicht, die ja letztendlich viel Geld für die Ausbildung ihrer Kinder bezahlen. Wie in Deutschland wollen auch die Eltern hier nur das Beste für ihre Kinder. Aber sie denken nicht an „Blue Collar”. Die Menschen hier haben ein anderes Verhältnis zur praktischen Arbeit. In China ist das glaube ich traditionell minderwertig. Dass Wissen und Bürotätigkeiten höherwertig sein sollen, ist natürlich falsch. Beides ist gleichermaßen wichtig.