×
×
        Über uns
WAP/PAD
Startseite>>Kultur und Gesellschaft

Kallikollie – Die neue, alte Bilderschrift der Sticker (3)

(German.people.cn)
Freitag, 12. August 2016
Folgen Sie uns auf
Schriftgröße

Widerhall und Erscheinung

Während die chinesischen Zeichen als sogenannte Ideogramme verschriftete Ideen darstellen, ist das lateinische Schriftsystem phonographisch und repräsentiert die Aussprache der Wörter. Während man die Bedeutung des Namens von Schang Kit auch heute noch mit seiner Aussprache als Cang Jie verstehen kann, sind die Bedeutungen der meisten deutschen Namen heutzutage selbst ihren Trägern unbekannt. So kommt es, dass Kinder nicht mehr Clothilde genannt werden. Es gehört nicht mehr zum guten Ton.

Der schöne Klang besitzt in phonographischen Sprachen eine große Bedeutung. Dabei ist er stets Ausdruck des Individuums, eine Interpretation der Wirklichkeit aus der Perspektive eines einzelnen Betrachters und damit einerseits geprägt durch eine gewisse Intimität und andererseits durch das Fehlen eines Absolutheitsanspruchs.

Jene Wörter in vielen phonographischen Systemen, die in direktester Beziehung zum Dargestellten stehen, haben ungegenständliche Laute als Ursprung. Das Ticktack der Uhren und Miauen der Katzen sind Formen der Onomatopoesie, der Lautmalerei. Sie entspringen dem Dargestellten selbst und stehen als Ideophone, vertonte Ideen, den ideographischen chinesischen Schriftzeichen relativ nah.

Im Großen und Ganzen ist Deutsch jedoch eine expressionistische Sprache, die ausdrückt, was der Sprecher denkt und fühlt. Statt wiederzugeben, was die Spatzen von den Dächern pfeifen, werden Eindrücke zu Ausdrücken verarbeitet und verlautbart. Chinesisch ist hingegen eine eher impressionistische Sprache, welche Wirklichkeit ohne Färbung eines Ichs an andere weitergibt.

Manchem Westler könnte das auch als Erklärung dafür herhalten, dass man in China des Öfteren Zeuge einer Extremform des Smalltalks werden kann. Es ist nicht ungewöhnlich die Nachbarin um 7 Uhr morgens im Fahrstuhl zu fragen, ob sie zur Arbeit geht und ob sie den Bus dafür nimmt, der gleich gegenüber hält. So weit, so gewöhnlich. Doch dass sich diese als Fragen getarnten Feststellungen nach dem Feierabend wiederholen, den Rest der Woche (des Monats, des Jahres) fortgeführt werden und kein Ende zu nehmen scheinen, das ist dann doch erstaunlich. Täglich grüßt die Nachbarin.

Ein Selfie in der Seelenlandschaft

Cang Jie nutzte einst seine vier Augen dazu, in die Welt hinaus zu schauen, sie zu erkennen und zu (be)schreiben. Er hat die Schrift damit also eigentlich nicht erfunden, sondern gefunden und zwar in der Welt.

Die Sticker der Handy-Generation sind nun freilich nicht direkt der Realität entnommen. Soweit der Redaktion von People’s Daily Online bekannt, sind Pferde und Frösche nicht gleich groß und auch keine allzu guten Tänzer. Doch dass die Sticker nichts abbilden, nicht gefunden wurden, lässt eine weitere Möglichkeit aus den vier Augen, aus dem Sinn.

Mit seinen zwei Augenpaaren konnte Cang Jie einer Interpretation nach zugleich in die Welt hinaus- und in den Himmel hinaufblicken, den Ursprungsort der kosmischen Gesetze. Vielleicht hat ihn das jedoch auch davon abgehalten, sich der intensiven Nabelschau hinzugeben. Wenn wir die Augen schließen und ausnahmweise nicht horchen, sondern in uns hineinsehen, können wir ihn da nicht ausmachen? Ein kleiner Cang Jie steckt doch in uns allen und flaniert durch die Seelenlandschaft. Seit einiger Zeit hat er nun auch ein Handy und macht fleißig Bilder von den tanzenden Fröschen und Pferden, vergnügten Teletubbies und urigen Eierwesen der menschlichen Gefühlswelt.

Gesellschaftlicher Kitt in der festgeschriebenen Eiszeit

Bei der Vermittlung unserer ganz persönlichen Befindlichkeiten, unseres wahren Selbst, verlässt man sich gern auf die Wortgewandtheit, Anmut und den Wohlklang anderer. Das gilt für Gedichte, Gemälde und Musik sowie auch für digitale Aufkleber. Die meisten Stickeralben sind kostenlos und lassen sich durch einfaches Antippen herunterladen. Sie verleihen emotionale Eloquenz, ohne sich mit der Beschreibung des eigenen Seelenlebens abplagen zu müssen. Nichts vermittelt die Liebe zur Natur so sehr, wie Millionen für einen Monet auszugeben, statt ein Fenster zu bauen. Und so sind die Fenster zur Seele heutzutage eben mit Stickern geschmückt.

Dass sich die elektronischen Haftbildchen so sehr von den nüchternen Schriftzeichen unterscheiden, liegt in der verwendeten Darstellungsweise begründet. Während sie vor Jahrtausenden noch geritzt und später mit Pinseln gemalt wurden, werden sie heute mit elektronischer Hilfe gesetzt. Chinas Öffnung und Aufstieg seit den 80er Jahren lässt zu einem Teil auch mit der Verbreitung der Computertechnik und Digitalisierung der Schrift in Verbindung bringen. Den Herausforderungen für die Verwaltung von über einer Milliarde Menschen konnte dadurch erheblich effektiver begegnet werden.

Da sich das Schriftbild der verwendeten Schreibmethode angleicht, unterliegen moderne Sticker nur noch wenigen Einschränkungen. Rein hypothetisch ließe sich Chinesisch heute auch als eine Abfolge vollfarbiger animierter Bilder schreiben. Wir haben die Technologie. Doch wie andere Aspekte der Sprache vereinheitlichen und konservieren die Medien und Schulen neben der Grammatik und dem Wortschatz auch das Schriftbild. Zum Revolutionärsten im deutschsprachigen Möglichkeitsraum zählt daher vielleicht noch die Einführung eines Versal-Eszetts.

Dass die Sticker gerade zur digitalen Eiszeit der schriftlichen Entwicklung aufkommen, lässt einem besonders warm ums Herz werden, zeigen sie doch, dass die Kommunikation als einer der wichtigsten Indikatoren des menschlichen Fortschritts nicht nur in ihrer Geschwindigkeit, ihrem Informationsgehalt, ihren Ausdrucksformen, sondern auch in ihren grundsätzlichen Bestandteilen beständig zunimmt. Durch Mitteilungsplattformen im Internet und auf mobilen Geräten stehen wir 24 Stunden mit der Welt in Verbindung. Frei nach Watzlawick wird es immer nicht nicht leichter, nicht nicht zu kommunizieren.

Schlusswortlosigkeit

Kunstwerke – zählen wir Kallikollien einmal großzügigerweise zu ihnen – gehören im Zeitalter ihrer technischen Reproduzierbarkeit zugleich allen und niemandem. Sie verhalten sich wie Wortschätze, die sich nicht verkleinern, wenn man sie teilt, sondern alle reicher werden lassen.

Weil die Sticker als eine Art Sprache benutzt werden, lässt sich kein Monopol auf einzelne von ihnen aufrechterhalten. Neue oder noch unbekannte Sticker lassen sich von jedem Handynutzer bequem abspeichern und der eigenen Galerie, dem modernen Stickeralbum, hinzufügen. Den Monet gibt es heute ganz ohne Moneten.

Dass Emotionen und Reaktionen heute gesucht, getauscht und stolz präsentiert werden können, sollte kein Grund zur Besorgnis sein. Leben und aufkleben lassen, heißt das Motto. Die Sticker erfüllen eine wichtige gesellschaftliche Funktion und befriedigen im wahrsten Sinne des Wortes das Mitteilungsbedürfnis. Auf den Spuren Cang Jies wandelnd, um die Geheimnisse der Schöpfung zu erkunden, hat sich der Blick nach innen gerichtet und gibt zum Wohle einer Gesellschaft mit unbeschränkter Haftung sprachlos gefühlvoll wieder, was uns gemeinsam im Innersten zusammenhält. 


【1】【2】【3】

Folgen Sie uns auf Facebook und Twitter !
German.people.cn, die etwas andere China-Seite.
Copyright by People's Daily Online. All Rights Reserved.