Der vor mehr als 20 Jahren erfolgte Abriss des von einem deutschen Architekten entworfenen Ji’naner Stadtbahnhofs erhitzt bis zum heutigen Tage die Gemüter der Anwohner.
Wenige Jahrzehnte nach dem Abriss sind die Anwohner unterschiedlicher Meinung, ob die von einem deutschen Architekten entworfene Bahnstation Ji’nans wieder aufgebaut werden sollte
Als Symbol der kolonialen Vergangenheit wurde Ji'nans stadtbildprägende alte Bahnstation 1992 abgerissen.
Die Stadtverwaltung gab 2013 Pläne zum Wiederaufbau der Station bekannt, was zu Meinungsverschiedenheiten und einer Debatte über die Notwendigkeit eines Duplikats führte.
China rühmt sich seiner langen Geschichte und vielfältigen Kultur, aber viele moderne chinesische Städte sehen praktisch identisch aus, und Besucher müssen häufig lange suchen, um die Relikte des kulturellen Erbes entdecken zu können. Viele antike Reliquien gingen aufgrund chaotischer Rebellionen, militärischer Invasionen, der Kulturrevolution (1966-76) oder neuerdings massiver Abbrucharbeiten unter dem Schwung der Urbanisierung verloren.
Eine chinesische Stadt bedauert offensichtlich ihre Entscheidung zum Abriss eines geschätzten historischen Architekturwerks. Einwohner Ji’nans, Hauptstadt der ostchinesischen Provinz Shandong, haben ihre Unterstützung für die Rekonstruktion einer stadtbildprägenden Bahnstation geäußert, die vor mehr als 20 Jahren abgerissen wurde, um den Weg für ein neues Gebäude frei zu machen.
Die von einem deutschen Architekten entworfene alte Bahnstation wurde 1992 abgerissen, aufgrund praktischer Fragen über höhere Passagierzahlen und der Ansichten einiger Beamter in der Stadtverwaltung, wonach das Gebäude eine schmerzliche Erinnerung an den europäischen Imperialismus darstelle.
Bei einer Leserumfrage der Nachrichten-Software Ji’nan antworteten 1.637 Teilnehmer, dass sie den vor einigen Jahren verworfenen Plan für eine Rekonstruktion begrüßen würden, während 834 dagegen gestimmt haben. Viele Ortsansässige hoffen, dass der Wiederaufbau ihrer geliebten Bahnstation dabei helfen könnte, eine wertvolle Erinnerung wieder herzustellen. Aber Experten zweifeln, ob ein Duplikat jemals die kulturelle und historische Bedeutung des Originals erreichen könnte.
Bau und Abriss
Nach seiner Fertigstellung trug der von deutschen und britischen Kolonialinteressen während der späten Qing-Dynastie (1644-1912) finanzierte Bahnhof offiziell den Namen Tianjin-Pukou Station. Auf Grundlage eines Entwurfs des deutschen Architekten Hermann Fischer begannen die Bauarbeiten im Jahr 1908 und endeten 1912.
Die Eisenbahnlinie verbindet das nordchinesische Tianjin über Pukou (Stadtbezirk Nanjings) in der ostchinesischen Provinz Jiangsu mit dem Süden. Die Bahnstation diente daher als wichtiger Knotenpunkt in Chinas Eisenbahnsystem, war einst die größte Bahnstation Asiens und hat dabei geholfen, Ji’nan in ein Industrie- und Handelszentrum zu verwandeln.
Viele Anwohner Ji’nans denken jedoch vor allem an die atemberaubenden architektonischen Eigenschaften der Station zurück. Der Jugendstilbau verfügt über typische Elementen der deutschen Architektur in jener Periode, ein hoher Glockenturm, Kuppeldach, Bogenfenster aus Buntglas und Wandmuster. Im 2010 erschienenen Buch „World Architecture in China“ bezeichnet Charlie Q. L. Xue, Professor und Architekt, das Gebäude als „schönstes Beispiel“ einer im Ausland entworfenen chinesischen Bahnstation.
Der Bahnhof hat der Stadt 80 Jahre lang gedient, bevor er 1992 entgegen der Wünsche vieler Bürgern abgerissen wurde.
Der wachsende Verkehr an der alten Bahnstation und die auf maximal 4.000 Passagiere begrenzte Warteräume waren die Hauptgründe für den Abriss und den Bau einer größeren Station. „An geschäftigen Tagen mussten Reisende häufig in einer mehrere hundert Meter langen Warteschlange stehen, die sich vom Wartesaal bis zum Bahnhofsvorplatz wand. Während des Frühlingsfests sah es dort fast wie auf einem Campingplatz aus. Es war praktisch unmöglich, in den Bahnhof zu gehen“, sagte Lu Shen, pensionierter Beamter des Ji’naner Eisenbahnbüros, gegenüber der Zeitschrift Sanlian Lifeweek.
Überraschenderweise gab es auch ideologische Gründe für den Abriss. Viele Menschen schreiben den Abriss dem damaligen Bürgermeister Zhai Yongbo und Xie Yutang, dem Vizebürgermeister Ji’nans, zu. Xie bezeichnete die alte Bahnstation anscheinend als „Symbol der Kolonialpolitik, das mich an eine Zeit erinnert, in der Chinesen in Unterdrückung lebten. Die grüne Kuppel des Glockenturms sieht aus wie die Soldatenhelme von Hitlers Armee. Wie in aller Welt kann sowas schön sein?“
„Dies geschah zu einer Zeit, als die Worte der Beamten alles bedeuteten. Sie dachten, dass die Bahnstation ein Symbol der Zeit des Einfalls von Imperialisten in China darstelle, und befahlen die Errichtung eines neuen, größeren und besseren, dachten aber nie an Kultur und Geschichte“, erinnerte sich Lu.
Der Abriss wurde schließlich entschieden, als Li Senmao, der damalige Eisenbahnminister, im Januar 1990 Ji’nan besuchte. Im darauf folgenden Juni begann das lokale Eisenbahnbüro mit dem Entwurf für eine neue Station und erhielt später von der Stadt- und Provinzverwaltung die Genehmigung zum Abriss des alten Bahnhofs. Im April 1991 hat das Eisenbahnministerium (das 2013 dem Verkehrsministerium 2013 angegliedert wurde) offiziell den Plan einschließlich des Abbruchs der alten Station genehmigt.
Als dann Mitte der 1990er Jahre ein neuer Großraumbahnhof aus Glas und Stahl gebaut wurde, kritisierten viele Bürger diesen als hässlich und leblos.
Debatte über den Wiederaufbau
Im Laufe der Jahre betrauerten viele Experten sowie Anwohner die alte Bahnstation und bezeichneten ihren Abriss als großen Verlust für die Stadt. Viele Internetnutzer notierten in ihren Blogs Erinnerungen zur Bahnstation und bejammerten sein Verschwinden.
2013 hat die Stadtverwaltung in einem Modernisierungsplan für die neue Bahnstation vorgeschlagen, die alte Bahnstation für 30 Millionen Yuan (etwa 4,1 Millionen Euro) auf der südlichen Seite des Bahnhofsplatzes, inmitten von Geschäftsgebäuden und Hotels, wieder aufzubauen. Die „Fernkopie“ sollte Touristen anlocken und der Region enorme Einnahmen bescheren.
Der Vorschlag entwickelte sich allerdings zu einer perfekten Gedächtnisstütze der Erinnerung an den 20 Jahre zuvor erfolgten rabiaten Abriss und brachte die angestaute Wut der Öffentlichkeit an die Oberfläche. „Der Entscheidung für einen Abriss war töricht. Die Entscheidung für einen Wiederaufbau, für touristische oder sonstige Zwecke, war eine weitere törichte Entscheidung“, sagte ein städtischer Planungsexperte, der anonym bleiben wollte, gegenüber Global Times.
„Ein Wiederaufbau ist sinnlos, wenn es fast unmöglich ist, die ursprünglichen Materialien, das Design und die Baumethoden wiederzuerlangen. Selbst wenn das neue Gebäude dem ursprünglichen Bahnhof ähnelt, wäre es eine Fälschung, der es an kultureller und ästhetischer Bedeutung mangelt“, sagte Zhang Linwei, ein Architekturprofessor an der Tongji-Universität, gegenüber Global Times.
Laut Li Ming, dem Direktor des Archäologischen Instituts Ji’nan, reicht „die Bedeutung der alten Bahnstation weit über das eigentliche Bauwerk hinaus. Sie hat die Stadtentwicklung beeinflusst.“
Li sagte, dass die Bahnstation den Fall der Qing-Dynastie, die Wirren der Republikzeit und den Widerstandskrieg gegen die japanische Aggression (1931-45) erlebt hat.
Tang Jialu, Mitglied von Ji’nans Stadtkomitee der Kommunistischen Partei Chinas (KPCh), bat 2014 die Provinzregierung, das Wiederaufbauprojekt aus diesen Gründen zu beenden. Im November antworteten die städtischen Planungsbehörden Ji’nans, dass sich die Stadt nach der Einholung von Öffentlichkeitsmeinungen und Beratungen durch Experten für eine Beendigung des Projekts entschieden hat.
Aber viele, die in der Station gearbeitet haben oder in besonderer Weise mit ihr verbunden waren, hoffen, dass sie eines Tages im Stande sein werden, die wiederaufgebaute alte Station erneut zu sehen.
Xu Guowei, der Baupläne der alten Bahnstation sammelt, ist ein treuer Unterstützer des Wiederaufbaus. „Es ist egal, warum sie abgerissen wurde. Jetzt, wo unsere Wirtschaftskraft gewachsen ist, können wir sie vollständig wieder aufbauen. Aus architektonischer Sicht mussten viele alte chinesische Bauwerke, die aus Erde und Holz bestanden, alle paar hundert Jahre repariert und restauriert werden, einschließlich der Palastbauten in der Verbotenen Stadt. Ji’nans Konfuziustempel wurde ebenso abgerissen und wieder aufgebaut“, sagte er gegenüber Ji’nan Daily.
„Je früher wir ihn wieder aufbauen, desto besser“ sagte er.
Sogar die People's Daily, die Flaggschiffzeitung der KPCh, hat sich der Diskussion angeschlossen. „Der stumpfe Abriss hat sich als riesiger Fehler erwiesen, der ignorant und kurzsichtig war“, liest sich ein kürzlich in der Zeitung veröffentlichter Kommentar.
„Besser als ein Wiederaufbau ist ein Denkmal an seinem ursprünglichen Standort, um unsere Nachfahren davor zu warnen, denselben Fehler noch einmal zu machen“, so der Artikel.