Morgens halb neun, Eisenbahnhof Nanjing Süd. Li Zhiming und seine Frau möchten mit dem Hochgeschwindigkeitszug G1481 nach Hangzhou fahren. Der Zug fährt um neun Uhr ab. Bereits um halb elf werden sie in der „Paradiesstadt" eintreffen. Herr Li freut sich schon auf den Hangzhouer Sauerfisch, den er mittags am Westsee kosten wird.
„Früher sind wir immer mit dem Auto nach Hangzhou gefahren. Es dauerte wesentlich länger und man musste Lebensmittel für unterwegs mitnehmen. Nun dauert die Zugfahrt nur anderthalb Stunden, man kann also am selben Tag zurück nach Hause fahren."
Auch bei einer Geschwindigkeit von 300 Kilometern pro Stunde bekommt man auf dieser Strecke nie ein Gefühl von Stress. Im Gegenteil: Der Blick aus dem Fenster kommt einer traditionellen chinesischen Tuschmalerei gleich. Nicht von ungefähr wird die Verbindung Ningbo-Hangzhou-Nanjing als die schönste Schnellzugstrecke Chinas bezeichnet. Auf dieser Strecke befinden sich unzählige Natur- und Kulturerbstätten. Da wären der Tianyi-Pavillon in Ningbo und die Hemudu-Stätte in Yuyao, die Heimatstadt des Literaten Luxun sowie natürlich der Westsee in Hangzhou. Außerdem passiert man das Keramikmuseum in Yixing, den Tianmu-See in Liyang, den Konfuzius-Tempel in Nanjing sowie klassischen Pavillons in Suzhou. Ach ja, die berühmten Dampfbrötchen-Restaurants in Wuxi kann man auch noch begutachten. Wenn man kein festes Reiseziel hat, steigt man ganz spontan an einer der vielen Stationen aus und lässt sich überraschen.
Die Hochgeschwindigkeitszüge im Jangtse-Delta werden daher auch scherzhaft Tie Di (铁的) bezeichnet. Eine Neuschöpfung aus dem Wort „Gao Tie", Hochgeschwindigkeitszug und „Di Shi", Taxi. Sie seien eben genauso schnell und bequem wie ein Taxi.
Frau Zhao aus Hangzhou ist vor kurzem mit ihrer Tochter nach Shanghai gefahren und hat dort das wissenschaftliche und das technische Museum besucht. Das Reiseziel am kommenden Wochenende ist der Dinosaurier-Park in Wuxi.
„Letztes Wochenende ist meine Tochter erst nach acht Uhr aufgestanden. Die Fahrt nach Shanghai dauert aber eh nur noch eine Stunde. Wir sind dann bis 16 Uhr im Museum geblieben. Wir haben irgendeinen Zug nach Hause genommen und waren sogar pünktlich zum Abendessen zuhause. Meine Tochter will am nächsten Wochenende unbedingt den Dinosaurier-Park in Wuxi besuchen. Kein Problem, habe ich gesagt, denn es ist wirklich unkompliziert und bequem."
Über das Jangtse-Delta mit einer Gesamtfläche von über 200000 Quadratkilometern sind insgesamt mehr als 30 Städte verstreut. Die schnelle Entwicklung des Hochgeschwindigkeitsnetzes für Züge hat auch der Tourismusbranche in relativ unbekannten Ortschaften einen Schub gegeben. Eine davon ist Huzhou, nur 18 Minuten Zugfahrt entfernt von Hangzhou. Das Huzhouer Tourismusamt bringt monatlich eintausend Touristen-Coupons auf den Markt, mit denen Reisende aus der Umgebung Rabatte für Sehenswürdigkeiten und Hotelzimmer erhalten. Die Zahl der Besucher an einem Durchschnittstag ist um etwa 3000 gestiegen, seit es die schnelleren Zugverbindungen gibt. Auch besondere Wochenendangebote, wie die der Reiseagentur China Youth Travel Service, locken mehr und mehr Besucher an. Reisebüromitarbeiter Herr Li erklärt:
„Viele Menschen haben erst freitags nach Feierabend Zeit. Wir haben im Voraus Tickets der Hochgeschwindigkeitszüge gekauft und Restaurants sowie Hotels vor Ort gebucht. Gleich nach dem Feierabend können die Kunden also einen unserer Züge nehmen. Auf sie wartet dann ein buntes Komplett-Wochenende."
Statistiken zufolge sollen bis 2020 mehr als 90 Prozent der chinesischen Bevölkerung von den Hochgeschwindigkeitszügen profitieren. Das flinke Bahnnetz soll sich bis dahin von Harbin im Norden bis Hongkong im Süden, von Chengdu im Westen bis Shanghai im Osten erstrecken.