Zu den Bereichen, in denen zwischen Deutschen und Chinesen besonders tiefe Missverständnisse stehen, gehört die Presse. Für mich war die direkte Erfahrung im Umgang mit chinesischen Medien ein spannender Lernprozess.
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Es war im Sommer des Jahres 2018, in Beijing. Da sprach mich die Redakteurin einer chinesischen Zeitung an. Ich hatte auf einer Expertentagung eine Analyse zur Neuen Seidenstraße vorgetragen. Ob ich bereit wäre, Beiträge für ihre Online-Zeitung zu schreiben? Sie ergänzte gleich: „Sie wissen, dass wir den Text gegebenenfalls abändern müssen?“ Meine Antwort war: „Ja, das verstehe ich, weiß aber nicht genau, was es bedeutet. Probieren wir es doch einfach mal aus!“
Am 18. September 2018 erschien mein Kommentar, „Chinas Neue Seidenstraße. Eine Globalisierung und eine Sache des Vertrauens“. Seitdem habe ich mehr als 15 Artikel für German.china.org.cn geschrieben. Daneben auch eine Reihe Beiträge für das Magazin China Pictorial in englischer Sprache. Diese Erfahrung ergänzt Erkenntnisse aus meiner theoretischen Auseinandersetzung mit China, als Sinologe, und meine Einsichten als ein deutscher Philosoph, der in Changsha lebt.
Vergleichen kann ich diese Erfahrung mit journalistischen Publikationen in deutschen Medien wie der Neuen Zürcher Zeitung, der FAZ, dem Tagesspiegel, der Süddeutschen Zeitung oder dem Cicero. Keine Redaktion, die mich als Autor anfragte oder Artikel annahm, warnte mich vor möglichen Einschränkungen meiner Ausdrucks-, Themen- und oder Meinungsfreiheit. Auch wenn die Zusammenarbeit überwiegend professionell verlief, gab es manche Fälle, in denen Redakteure oder Schlagzeilenmacher den Sinn meiner Aussagen entstellten. Einmal räumte der korrespondierende Redakteur mir gegenüber ein, „Ja, wir machen Zensur, damit wir unseren Leser-Erwartungen entsprechen können, dabei geht es nicht um Wahrheit“. In anderen Fällen wurde ich vor vollendete Drucksachen gestellt. In der Regel ist dann das Verhältnis ohne Klärung der Fragen beendet worden. Über Formulierungen oder Kriterien wurde nicht diskutiert. Im Laufe der Jahre blieben nur sehr wenige Zeitungen übrig, die an lebendigen Beiträgen im Sinne der Wahrheit interessiert waren.
Demgegenüber habe ich persönlich die redaktionelle Betreuung in China immer als respektvoll, fair und transparent erfahren. Dabei gab es regelmäßig Nachfragen und Änderungswünsche. Diese führten ausnahmslos zu einem abgestimmten Ergebnis. Auch wenn der Prozess manchmal Geduld verlangte, konnte ich damit gut leben und habe Missverständnisse und Hinweise auf redaktionelle Vorgaben als Bereicherung empfunden.
Seit den 1990er Jahren habe ich beobachtet, wie Chinas Medien immer professioneller, vielfältiger und fachlich kompetenter geworden sind. Ihre Rolle als Unterstützer des gesellschaftlichen Auftrags von Staat und Partei nehmen sie nuanciert wahr. Sogar wer kein Chinesisch kann, findet ohne Weiteres Informationen über den Auftrag und das Selbstverständnis der chinesischen Presse. In nicht-chinesischen Zeitungen kann man sich ein Bild von den inhaltlichen Facetten und den verschiedenen Niveaus der Leserschaft machen, die Staat und Partei zielgenau informieren oder motivieren wollen.
Die verfassungsrechtlich verankerte Presse- und Ausdrucksfreiheit wird durch ein modernes Regelwerk ausgestaltet, bei dem die Verantwortung im Sinne ihrer offiziellen Definition im Zentrum steht und man versucht, mit den technischen Entwicklungen Schritt zu halten. Entscheidend ist, dass diese Entwicklung rechtsförmig geschieht, nachvollziehbar dokumentiert wird und dem Wohl der Gesellschaft dient.
Deutschen fällt es jedoch immer wieder schwer, sich in die besondere Logik dieses Systems hinein zu denken. Hinter diesem Verständnis- und Verständigungsproblem stehen besondere historische Erfahrungen, kulturelle Voreinstellungen und die Schlüsse, die beide Länder jeweils für sich daraus gezogen haben. In Deutschland sieht man den Wert von qualifiziertem Widerspruch, vertraut der unsichtbaren Hand der Schwarm-Vernunft und misstraut dem starken Staat. Die Presse soll dabei helfen, Macht zu kontrollieren und Fehlentwicklungen zu korrigieren. Der Raum, in dem hierbei normative Entscheidungen getroffen werden, umfasst die gesamte Gesellschaft. Man geht optimistisch von einem ausreichenden Bildungshintergrund und Gemeinwohl-Interesse der großen Mehrheit aus.
China leistet sich einen Zwischenschritt, der die Qualität und Verantwortung im politischen Geschäft sichern soll. Dabei werden die Kräfte der politischen Verantwortung innerhalb einer Dachorganisation versammelt, strukturiert und qualifiziert. Diesen Zwischenschritt nimmt außerhalb Chinas kaum jemand so wahr. Dazu trägt auch bei, dass der Name dieser Organisation, „kommunistische Partei“, dem deutschen Partei-Begriff diametral entgegensteht. Zwar sollen auch in Deutschland die Parteien an der politischen Willensbildung der Bevölkerung mitwirken. Sie verstehen sich dabei allerdings als Vertreter von Partikular-Interessen. Deren Widersprüche, so die Hoffnung, lassen sich, in einer relativ übersichtlichen und solidarischen Gesellschaft, fruchtbar machen. Nach klassischem deutschem Selbstverständnis ist kritisches Lesen und unabhängiges Hinterfragen amtlicher Angaben und Geschichten eine Bürgerpflicht, im Gemeinschaftsinteresse. Deutschlands aktuelle politisch-kulturelle Krise weckt allerdings Zweifel daran, dass dieser Optimismus für die kommenden Herausforderungen der globalen Moderne ausreicht, zumal neben der Presse auch das Bildungswesen seit den 1990er Jahren massiv an Vielfalt, Kompetenz und Vertrauen verloren hat.
Chinas Weg der moderierten öffentlichen Meinung eröffnet Räume für indirekte Kommunikation in einer ungleich größeren, heterogeneren und dynamischeren Gesellschaft. In diesen Räumen können Anspruch und Wirklichkeit abgeglichen werden, um Handlungsbedarf einzugrenzen. Die Menschen lesen was der regierenden Partei bzw. dem Staat wichtig ist und verhalten sich aus eigenem Urteil dazu. Ergänzend stehen unzählige informelle Formate zur Verfügung, um sich auszutauschen und zu informieren. Die damit verbundene politische Anthropologie ist weniger voraussetzungsreich: die Menschen (außerhalb der „Partei“) werden eingeladen, nicht wie selbstverständlich in Anspruch genommen. Andererseits ist die Erwartung an den Staat in China höher, aus sich heraus für Integrität, Verantwortung und Kompetenz zu sorgen.
Hier zeigt sich auch der wirkliche Systemunterschied zwischen China und Deutschland heute: Unter amerikanischem Einfluss versteht man Freiheit als „Freiheit von staatlichen Vorgaben“. Die Chance des sozial Verbindenden soll wahrnehmen wer will. Konfuzianisch gedacht, haben wir Menschen eine „Freiheit zur Selbstkultivierung“. Damit ist soziale Verantwortung verbunden. Das ist zugleich vereinbar mit Immanuel Kants Philosophie von der „Freiheit zur Vernunft“, die Bevormundung in gutes Regieren verwandeln kann, wenn der Staat sich als Diener des Gemeinwohls versteht. Deutschland steht derzeit zwischen diesen Modellen. Einstweilen haben wirtschaftliche Sachzwänge und „Lesererwartung“ einer von Twitter getriebenen neuen Medienwelt dem Aufklärungs-Gedanken den Rang abgelaufen.
Dabei gibt es einige Anknüpfungspunkte. Im Kodex des Deutschen Presserates heißt es: „Verleger, Herausgeber und Journalisten müssen sich bei ihrer Arbeit der Verantwortung gegenüber der Öffentlichkeit und ihrer Verpflichtung für das Ansehen der Presse bewusst sein. Sie nehmen ihre publizistische Aufgabe fair, nach bestem Wissen und Gewissen, unbeeinflusst von persönlichen Interessen und sachfremden Beweggründen wahr.“ Die Berufsethik der Presse umfasst „die Pflicht, im Rahmen der Verfassung und der verfassungskonformen Gesetze das Ansehen der Presse zu wahren und für die Freiheit der Presse einzustehen.“ [https://www.presserat.de/pressekodex.html] Beides kann nach meinem Eindruck auch in China gelten, beides lebt von ständigem Lernen.
Hier zeigt sich überhaupt kein Gegensatz. Ein vernünftiger normativer Rahmen wird durch ein System der Qualitätskontrolle strukturiert und durch Governance-Maßnahmen gefüllt. Der Staatsauftrag zur Verantwortung einerseits und eine Kultur der Kritik andererseits widersprechen sich nicht. Das ist die formale Seite.
Den Medien kommt bei der Gestaltung einer friedlichen und gesunden Welt eine besondere Verantwortung zu. Ihre Geschichten und die Sprache, in denen sie diese erzählen, verlangen ganz neue Anstrengungen, um den Herausforderungen mit einander gerecht zu werden. Um die Geschichte Chinas gut und richtig zu erzählen, braucht man versierte Medien. Wie versteht der Leser, was soll er verstehen - was ist zu tun, damit das Verstehen gelingt?
Deutschland wartet noch auf den politischen Beschluss, die eigene Geschichte der Welt zu erzählen. Unzureichendes Wissen von einander lässt sich recht leicht ergänzen. Für gelingendes Miteinander brauchen wir jedoch viel Übung und Erfahrung. Nach drei Jahren pandemischer Trennung können wir einander nun wieder begegnen, Wort und Bild mit eigenem Erleben und gemeinsamem Tun abgleichen. Die Medien sind dabei der Ort einander zu zeigen, wer wir sind, wie wir uns organisieren, was uns wichtig ist. Wenn uns mit dem Erzählen dann noch das Zuhören gelingt, wachsen aus dem Bodensatz unserer Vorurteile auch die Fähigkeiten einander wertzuschätzen.
Ole Döring ist habilitierter Philosoph und promovierter Sinologe. Er arbeitet zwischen Berlin und China an der Verständigung der Kulturen. Er hat eine Vollprofessur an der Hunan Normal University in Changsha inne, ist Privatdozent am Karlsruhe Institut für Technologie und Vorstand des Instituts für Globale Gesundheit Berlin. Die Meinung des Autors spiegelt die Position unserer Webseite nicht notwendigerweise wider.