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Thomas Heberer: Mittendrin bei der Reform- und Öffnungspolitik

(German.people.cn)
Donnerstag, 05. Juli 2018
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Wenn in Deutschland von China-Experten die Rede ist, dann fällt vor allem immer wieder ein Name: Prof. Dr. Thomas Heberer. Der Seniorprofessor der Universität Duisburg-Essen gilt als einer der versiertesten China-Kenner im deutschsprachigen Raum. In seinem Streben, Brücken zwischen den beiden Ländern zu schlagen, pendelt Heberer bereits seit Jahrzehnten zwischen Deutschland und der Volksrepublik.

Im Gespräch mit People’s Daily Online berichtet der Professor über seine Arbeit und schildert, wie er vor 40 Jahren die Reform- und Öffnungspolitik live vor Ort miterlebte.

1. Seit mehr als 50 Jahren beschäftigen Sie sich intensiv mit China. Was hat Sie ursprünglich an dem Land gereizt?

Was da am weitesten zurückreicht, ist, dass meine Mutter mir als Kind immer Geographiebücher geschenkt hat, zumal diese mich besonders interessiert haben. Ich erinnere mich noch besonders an einen Band, der Ostasien und China behandelt hat. Darin hieß es, dass dort einige der ältesten und am wenigsten bekannten Völker der Welt lebten. Das hat mich sehr fasziniert und auch mein Interesse geweckt. Ich habe mir als Jugendlicher auch schon die Frage gestellt, wodurch sich eigentlich verschiedene Völker und Kulturen unterscheiden. Was haben sie gemeinsam und wie kann man auch friedlich miteinander auskommen und etwas voneinander lernen?

Nach dem Abitur habe ich dann Ethnologie studiert. Da musste man einen Schwerpunkt wählen und ich habe mich für China entschieden. Damals fand ich China auch politisch interessant. Es war eine Alternative zu den verkrusteten Strukturen und der Bürokratisierung in der Sowjetunion und in den sozialistischen Ländern in Osteuropa. Ich bin dann 1975 erstmals mit einer Reisegruppe nach China gefahren und war sehr begeistert. Ich habe erst später gemerkt, dass wir auch sehr viele Potemkinsche Dörfer gesehen haben und viele Dinge, die uns präsentiert wurden, auch so nicht stimmten. Nach der Reise habe ich mir jedoch gesagt, wenn ich dieses Land und seine Menschen wirklich kennenlernen will, dann muss ich dort auch einmal längere Zeit gelebt und gearbeitet haben.

Nach meiner Rückkehr bin ich daher zur chinesischen Botschaft nach Bonn gefahren und habe mich erkundigt nach Möglichkeiten, dort nach meiner Promotion zu arbeiten. Als ich 1977 promoviert hatte, bin ich noch einmal dorthin hingefahren und habe mich offiziell um eine Stelle bei dem chinesischen Verlag für Fremdsprachen beworben. Anschließend bin ich dann von der Beijing Rundschau für viereinhalb Jahre angestellt worden.

2. Als einer der wenigen Deutschen haben Sie China bereits vor der Reform- und Öffnungspolitik kennengelernt. Wann und in welcher Form haben Sie die Öffnung Chinas erstmals bewusst wahrgenommen?

Im Prinzip war China bei meinen ersten Besuchen nach wie vor ein sehr abgeschottetes Land. Es waren keine privaten Kontakte zu Chinesen möglich. In meinem Arbeitszimmer bei der Beijing Rundschau saßen außer mir noch drei Chinesen und die durften mit mir nur über Arbeitsfragen sprechen und nicht über private Dinge. Wenn ich beispielsweise nach den Kindern in der Schule gefragt habe und was dort so unterrichtet wird, dann hieß es ich solle doch den Parteisekretär fragen. Dann hatte ich natürlich auch keine Lust mehr, irgendetwas zu fragen. Das war ziemlich frustrierend, denn das Freundschaftshotel in Beijing, in dem die sogenannten ausländischen Experten wohnten, war so eine Art Ghetto. Kein Chinese kam dort ohne eine Genehmigung seiner Arbeitseinheit hinein. Kollegen besuchten einen auch nur in Gruppen und stellten dann stets politische Fragen, worüber sie anschließend ein Protokoll schrieben, wie ich später erfuhr.

Das änderte sich im Herbst 1978, kurz nachdem Deng Xiaoping rehabilitiert worden war. Unter anderem wurde eine Rede von ihm veröffentlicht und uns ausländischen Experten auch zugänglich gemacht, in der es hieß, dass 98 Prozent der ausländischen Experten gut seien. Von da an lockerten sich auch die Zugangsbestimmungen für das Freundschaftshotel. Chinesische Besucher mussten sich zwar weiter mit Arbeitsausweis anmelden, und wenn man dreimal kam, wurde das der Einheit gemeldet. Aber nun war es auch möglich, Chinesen außerhalb der eigenen Einheit kennenzulernen und auch Freundschaften zu schließen.

Unter diesen Voraussetzungen habe ich dann auch meine Frau kennengelernt. Wir haben im August 1979 geheiratet. Ich war damals der erste westliche Ausländer, der nach der Kulturrevolution in China eine Chinesin geheiratet hat. Als wir das beantragten, wussten wir auch nicht, wie es ausgehen würde. Es hätte auch sein können, dass meine Frau in ein Arbeitslager kommt und ich ausgewiesen werde. Das war schon eine Situation, die sehr unsicher war und viel Kraft kostete.

Man merkte, dass sich nach und nach Dinge änderten. Dass nun beispielsweise eine Kollegin bei der Beijing Rundschau plötzlich mit Dauerwellen ins Büro kam. Zunächst rief dies noch großes Gelächter hervor, dann gewöhnte man sich daran. Außerdem konnten wir jetzt Tanzabende organisieren, die Kollegen konnten auch einzeln in das Freundschaftshotel kommen und es gab vor allem mehr Nahrungsmittel zu kaufen. Damals war fast alles in China rationiert und es gab nur wenig Obst, Gemüse und Fleisch zu kaufen. Das galt auch für uns ausländische Experten, die ja privilegiert waren. Auch Bier war beispielsweise rationiert, wir bekamen drei Flaschen pro Woche. An Obst gab es in der Regel lediglich Äpfel und sonst nichts und es gab nur ein geringes Warenangebot in der Stadt. Bei der Kleidung konnte man sich zwischen blau, grün oder grau entscheiden. Das hat sich 1978, als die Wirtschaftsreformen begannen, schlagartig verbessert. Plötzlich kamen Früchte und Gemüse aus dem Süden in den Norden. Es gab auch mehr Fleisch, weil die Bauern nunmehr wieder privat oder im Familienverband wirtschaften konnten und es interessant für sie war, Agrargüter auf den Markt zu bringen, um so ihr Einkommen zu verbessern.

Die Rationierungen wurden dann nach und nach aufgehoben. Die 3. Plenartagung des 11. Zentralkomitees hat im Dezember 1978 ja auch Wirtschaftsreformen beschlossen, zunächst insbesondere für den ländlichen Raum. Ich war damals einer der Übersetzer und Korrektoren der Dokumente dieser Tagung. All Sitzungen der politischen Führung, Parteitage, Volkskongresstagungen usw. waren streng geheim. Bei der 3. Plenartagung kam min Chef kam zu mir ins Büro und sagte: "Du gehst jetzt auf Reisen.". Er sagte mir nicht, wohin es ging. Ich sollte schnell zurück ins Freundschaftshotel und notwendige Sachen für eine Woche packen. Eine Gruppe von ausländischen Experten aus verschiedenen Nationen wurde dann zu einem geschlossenen und abgesicherten Anwesen gefahren und dort untergebracht. Hier wurde uns eröffnet, dass es eine Sitzung des Zentralkomitees gebe mit ganz wichtigen Reformbeschlüssen, die wir übersetzen und aufpolieren sollten. So haben wir dann erstmals von dieser Tagung mit weitreichenden Konsequenzen erfahren. Mit der Außenwelt durften wir keinen Kontakt aufnehmen.

Prof. Dr. Thomas Heberer

3. Bereits vor 10 Jahren haben Sie gefordert, den Personalaustausch zwischen China und dem Westen weiter auszubauen. Sind Sie der Meinung, dass sich dieser Austausch seitdem intensiviert hat?

Er hat sich zweifellos intensiviert. Es hat sich vor allem im wissenschaftlichen Austausch sehr viel getan. China schickt jetzt Doktoranden von vielen Universitäten für ein Jahr ins Ausland, wo sie von Methoden und Theorien lernen sollen. Das ist etwas relativ Neues und wird vom chinesischen Staat finanziert. Auch der Wissenschaftsaustausch ist erheblich einfacher geworden. Umgekehrt gehen auch mehr Deutsche nach China und lernen Chinesisch oder verbessern ihr Chinesisch. Dazu gehören auch Nicht-Sinologen aus allen Fachrichtungen.

An der Universität Duisburg-Essen sind beispielsweise 2.200 der insgesamt rund 48.000 Studierenden aus China. Damit sind sie die größte Gruppe an ausländischen Staatsbürgern an dieser Universität. Die kommen nun beleibe nicht nur über staatliche Kanäle, sondern weitgehend privat, selbstfinanziert. Das zeigt dass sich hier doch sehr viel getan hat und sich der Austausch deutlich verbessert hat.

4. Ist der Austausch damit nun auf einem zufriedenstellenden Niveau?

Diese Entwicklung ist zufriedenstellend. Die besten Studierenden gehen natürlich nicht nach Deutschland, sondern in die englischsprachigen Länder, vor allem in die USA. Das hat mit dem einfacheren Spracherwerb zu tun. Englisch ist auch in China die erste Fremdsprache. Aber Deutschland ist natürlich auch attraktiv, weil es hier keine Studiengebühren gibt und daher die Kosten für ein Studium durchaus günstiger sind als an den teuren Universitäten in China selbst. Und ein ausländischer Abschluss zählt immer noch mehr, als ein Abschluss im Inland. Es kommen zugleich auch Wissenschaftler hierher, die ein Jahr "geparkt" werden, wie ich es nenne. Denn sie müssen ein Jahr im Ausland gewesen sein, bevor sie z.B. Professoren werden können und müssen auch einen entsprechenden Nachweis bringen. Das verdeutlicht, dass man mittlerweile einen Auslandsaufenthalt als unabdingbar für eine wissenschaftliche Karriere ansieht.

5. In den vergangenen Jahrzehnten waren Sie Zeuge der rasanten Entwicklung Chinas. Welche weiteren Fortschritte erwarten Sie in den kommenden 10 Jahren?

China hat ja schon 2013 beschlossen, ein neues Entwicklungsmodell zu etablieren. Das rein quantitative Wachstum soll demnach durch qualitatives Wachstum ersetzt werden. Nachhaltigkeit soll dabei eine Kernrolle spielen. Das ist ein ganz entscheidender Punkt, dass man sich nämlich verabschiedet von dem reinen Wachstum in Zahlen und übergeht zu einem stärker nachhaltigen Wachstum.

Der zweite Punkt, der auch noch einmal vom 19. Parteitag im letzten Jahr unterstrichen wurde, ist die Beseitigung der Armut. Ende der 1970er Jahre lebten in China schätzungsweise über 300 Millionen Menschen unterhalb der Armutsgrenze. In den letzten Jahren war noch immer die Rede davon, dass es ca.45 Millionen Menschengebe, die noch in Armut leben. Wenn man hier die Kriterien der Weltbank anwendet, dass jeder, der weniger als 1,5 US-Dollar pro Tag zur Verfügung hat als arm gilt, dann leben in China wahrscheinlich noch 50-60 Millionen Menschen unterhalb dieser Armutsgrenze. Es gibt also noch Armut. Vor allen in den Bergregionen, in eher abgelegenen Regionen und in den Gebieten ethnischer Minderheiten. Die Beseitigung dieser Armut soll nun laut Entwicklungsplan bis 2020 bewerkstelligt sein.

Der dritte Faktor ist die Verbesserung der Umwelt. Auch da hat man sich ein Ziel gesetzt. Bis 2035 soll die Umweltproblematik in China grundsätzlich verbessert, beziehungsweise geklärt sein.

Ein vierter Punkt besteht im Upgrading, d.h. der Höherwertigkeit von Industrien. China hat vor, in gewissen fortgeschrittenen Technologien, genannt werden hierbei immer Robotik, Drohnenentwicklung, Digitalisierung, künstliche Intelligenz, Elektromobilität usw., eine führende Rolle in der Welt einnehmen.

Fünftens, und das ist mehr eine Hoffnung von mir, dass sich China auch stärker an internationalen Normen orientiert und zu einem verlässlichen Partner in der Weltpolitik wird.

6. Dank Ihrer China-Expertise, gelten Sie auch in Politik und Wirtschaft als gefragter Berater. Häufig begleiten Sie Delegationen nach China, im Jahr 2016 reisten Sie sogar mit dem damaligen Bundespräsidenten Joachim Gauck in die Volksrepublik. Welche Rolle übernehmen Sie auf solchen Reisen?

Ich glaube Politikberatung ist an sich ein wichtiger Punkt. Doch je höher der Rang eines Politikers, desto schwieriger ist es ihn zu beraten. Einen Oberbürgermeister, zu dem man einen persönlichen Draht hat, kann man einfache beraten als einen Bundespräsidenten, der während einer Auslandsreise ständig gefragt und umlagert ist.

Im Prinzip geht es mir bei einer Beratungstätigkeit darum, ein besseres Verständnis von China zu erreichen. Ich möchte, dass die zu beratenden Politiker ein besseres Bild von diesem Land gewinnen, etwa im Hinblick auf die Vielfalt und Diversität Chinas. China ist nicht einfach ein einheitliches Gebilde, über das man generelle und verallgemeinernde Aussagen machen kann. Hier gibt es vielfältige Unterschiede von Provinz zu Provinz, von Bezirk zu Bezirk und von Landkreis zu Landkreis. Zudem halte ich für wichtig, dass deutsche Politiker versuchen, die innere Logik und Funktionsweise des politischen Systems zu verstehen. Ohne ein solches Verständnis gelangt man leicht zu falschen Schlussfolgerungen.

Die Strukturen und Institutionen Chinas sind für Menschen, die sich damit nicht ausreichend beschäftigt haben, sehr schwer zu verstehen - gerade aufgrund dieser Vielfalt und der spezifischen politische Geschichte und Kultur. Hier bedarf es eines Übersetzers, der versucht, bestimmte Strukturen, Institutionen, Funktionen und Funktionsweisen zu übersetzen.

Ich denke, dass alle Gesellschaften prinzipiell sehr ähnliche Probleme haben, diese Probleme jedoch auf unterschiedliche Weisen lösen. In der heutigen globalisierten Welt sehen sich Gesellschaften ungeachtet ihres politischen Systems ähnlichen Problemen gegenüber: Klimawandel, Erwärmung, ökologischen Problemen, Probleme der Digitalisierung, Überalterung Beschäftigungsprobleme usw.. Und das Politikern zu verdeutlichen, darin sehe ich eine ganz wichtige Aufgabe.

7. Gestatten Sie uns zum Schluss noch eine persönliche Frage. Worauf sind Sie im Hinblick auf Ihre jahrelangen Forschungsarbeiten in Verbindung mit China besonders stolz?

Stolz ist vielleicht keine geeignete Kategorie. Stolz bezieht sich nur auf die eigene Leistung. Dass ich in China forschen konnte, hängt auch damit zusammen, dass ich von chinesischer Seite aus die Möglichkeit erhielt in dieser Breite, Weite und Vielfalt zu forschen. Man kann ja nicht einfach nach China fahren, Menschen befragen und forschen, sondern es bedarf zugleich eines oder mehrerer Kooperationspartner. Ich habe über die Zeit hinweg immer mit Kooperationspartnern langfristig Vertrauen aufgebaut. Über viele Jahre lang habe ich chinesische Wissenschaftler von Partnerinstituten eingeladen und auch selbst junge Wissenschaftler dorthin geschickt, so dass nach und nach ein Vertrauensverhältnis auf der Basis gegenseitigen Verständnisses entstanden ist, dass gemeinsame Forschung erleichtert hat. Vertrauen ist die Grundlage für Forschungskooperation

Es gibt bestimmte Punkte, auf die ich nicht stolz bin, aber die so meine ich, nicht unwichtig waren. Im Jahr 2002, habe ich zum Beispiel 200 000 D-Mark zum Bau einer Schule in einem Armutsgebiet der ethnischen Minderheit der Yi in der Provinz Sichuan gesammelt. Das ist etwas, auf das ich ein wenig stolz bin. Ich bin öfter an der Schule gewesen und habe mir angeschaut, was das bewirkt hat, nämlich dass Kinder nun dort zur Schule gehen können, die dazu vorher keine Möglichkeit hatten. Das sind Dinge, die für einen Wissenschaftler ebenfalls wichtig sind. Nicht nur Forschung zu betreiben, sondern zugleich ein bestimmtes Maß an Empathie für die Menschen zu entwickeln über die man forscht und - wo möglich – beizutragen zur Verbesserung der Lebensverhältnisse

Auch 2008, während der Olympiade in China, als China kein gutes Image in den deutschen Medien hatte, habe ich damals in der Tageszeitung taz "14 Thesen gegen die Dämonisierung Chinas" veröffentlicht. Das hat einen weiten gesellschaftlichen Wiederhall hervorgerufen und wurde breit diskutiert. Das sind einfach Dinge, die aber auch zu der Brückenfunktion gehören, die ich gerne übernehmen wollte.

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