Viele chinesische Eltern halten es für ihre elterliche Pflicht, ihren Kindern bis zum Gaokao eine intakte Familie zu bieten. Deswegen schieben viele Paare ihre längst geplante Scheidung auf die lange Bank, um das geliebte Kind vor der wichtigsten Prüfung der Schullaufbahn nicht negativ zu beeinflussen. Die Hochschulaufnahmeprüfung endet jedes Jahr am 8. Juni, darauf folgt der so genannte „Post-Gaokao"-Scheidungsboom, der dann normalerweise bis August anhält.
Der 45jährige Liu Jun und seine Frau haben sich bereits vor sechs Monaten entschlossen, ihrer 20jährigen Ehe ein Ende zu bereiten. Jedoch haben sie vereinbart, bis Anfang Juni weiter unter einem Dach zu leben, um ihren Sohn gemeinsam bei der Vorbereitung auf die Gaokao zu unterstützen. Herr Liu sagt, er würde es sich nie verzeihen können, wenn sein Sohn die so wichtige Prüfung wegen der Scheidung verhaut.
Cheng Tingting ist 23 Jahre alt und arbeitet als Kunstlehrerin in einer Grundschule. Sie erinnert sich noch lebhaft an jene furchtbare Nacht vor fünf Jahren, als sie erfuhr, dass sich ihre Eltern nach der Gaokao scheiden lassen würden.
„Sie stritten erbittert. Ich hörte meinen Vater zu meiner Mutter sagen, „Ich kann nicht mehr mit dir zusammenleben. Lass uns scheiden, sobald Tingting mit der Prüfung fertig ist." Und dann hörte ich das Geräusch vom zerbrechendem Glass."
Tingting öffnete die Tür, sah den demolierten Fernseher und zerstörte Handys auf dem Boden. Sie hatte das Gefühl, dass die gesamte Welt zusammenbrach. Die frühere Musterschülerin drohte ihre Eltern, die Schule abzubrechen, wenn sie sich wirklich scheiden ließen. Sie konnte sich nicht mehr auf das Lernen konzentrieren, wurden depressiv und mit den Noten ging es schnell abwärts.
Tingtings Eltern hatten keine andere Wahl als an einer gemeinsamen Eheberatung teilzunehmen und konnten ihre Differenzen dann tatsächlich beilegen.
Aber nur die wenigsten Paare können ihre kriselnde Ehe vor dem Aus retten. Eine Scheidung der Eltern ist für das Kind immer eine hohe psychologische Belastung, unabhängig davon, ob vor oder nach der Gaokao, so die Kinderpsychologin Yang Jin.
„Wenn die Eltern wirklich verantwortungsbewusst sind, sollten sie nach der Meinung des Kindes fragen. Auch wenn sich die Eltern erst nach der Gaokao scheiden lassen, wird sich das Kind nicht besser fühlen. Er oder sie wird das Gefühl haben, der einzige Grund zu sein, dass Mama und Papa noch zusammen sind. Im Umkehrschluss fühlt sich das Kind auch oft als das einzige Hindernis für ein glücklicheres Leben der Eltern."
Manche Kinder wünschen sich sogar von sich aus eine Scheidung der Eltern, anstelle eines erzwungenen Zusammenlebens. Der 21jährige Student Zheng Bowen hat die misslungene Ehe seiner Eltern problemlos akzeptiert.
„Sie haben nie vor mir gestritten, kein einziges Mal. Sie beendeten ihre Ehe auf eine ruhige und freundschaftliche Art und Weise. Ich akzeptierte ihre Entscheidung und dass sie einander für den falschen Partner halten. Ich wünsche ihnen eine glückliche Zukunft."
Solch einen Umgang empfiehlt auch Journalist Jin Wenjie, der sich auf das Gebiet der Kindererziehung spezialisiert hat. Seiner Meinung nach sollten Eltern, die sich für eine Scheidung entscheiden, nicht kritisiert werden, auch wenn es für die Kinder schmerzhaft sei.
„Vater und Mutter sind auch Individuen. Sie haben das Recht, für sich selbst zu leben, obwohl ihre Liebe für die Kinder selbstlos ist. Es ist Teil des Erwachsenwerdens zu begreifen, dass man im Leben auch Dinge akzeptieren muss, die einem nicht gefallen. Man muss die Realität, Veränderungen und manchmal auch Leid annehmen."
Doch im Vergleich zu ihren erwachsenen Eltern fällt es den Minderjährigen noch schwerer, diese bittere Realität zu akzeptieren. Deswegen rät Jin Wenjin Eltern, wenn eine Scheidung unvermeidbar ist, dann müsse zumindest der Prozess der Trennung möglichst transparent und schnell durchgezogen werden.