Die Selbstmordrate unter den älteren Menschen hat in den ländlichen Teilen Chinas in den vergangenen 20 Jahren stark zugenommen. Hauptursache ist die schlechte Lebensqualität. Ein Ende dieses Trends ist noch nicht in Sicht.
Liu Yanwu von der Universität Wuhan studiert dieses traurige Phänomen schon seit sechs Jahren. Wie er herausfand, nahmen sich vor zwei Jahrzehnten von 100.000 älteren Menschen vom Lande erst 100 das Leben. Heute sind es fünf Mal so viele.
„Noch mehr schockiert hat mich aber die mangelnde Anteilnahme in den Dörfern, wo die Alten Selbstmord begangen haben“, sagt Liu. „Der Tod scheint nichts zu sein, vor dem man sich fürchten muss. Selbstmord ist ein ganz normales, ja fast schon ein glückliches Ende.“
Liu begann seine Feldforschung im Jahr 2008 im Kreis Jingshan in der Provinz Hubei. Er hat die Situation in zehn Dörfern untersucht. Während eines zweiwöchigen Aufenthalts in einem Dorf nahmen sich gleich drei ältere Menschen das Leben.
In anderen Dörfern erlebte Liu ähnliche Tragödien. In einem Fall stürzte sich ein Dorfbewohner in einen Teich. Gelähmte Personen würden sich häufig mit Pestiziden das Leben nehmen, erzählt Liu.
Niemand in diesen Dörfern verurteile die Kinder der Suizidopfer, so der Soziologe weiter. Der Tod sei für diese alten Menschen eine Erleichterung.
Inzwischen hat Liu auch Dutzende von Dörfern in den Provinzen Jiangsu, Zhejiang, Shandong, Shanxi, Hebei, Henan und Guizhou untersucht. Sein Fazit: Die Umstände würden von Ort zu Ort zwar leicht variieren, die Ursache für den Freitod sei aber fast immer die schlechte Lebensqualität.
Die kindliche Pietät war im alten China noch sehr stark ausgeprägt. Heutzutage können sich viele alte Menschen in den ländlichen Teilen jedoch nicht mehr auf die Unterstützung ihrer Kinder verlassen. Grund sind die gewaltigen sozioökonomischen Veränderungen seit Beginn der Reform- und Öffnungspolitik Ende der 1970er Jahre. Ein Rentensystem, das den Wegfall der kindlichen Unterstützung kompensieren könnte, existiert noch nicht.
Oft entscheidet daher eine kühle Kosten-Nutzen-Rechnung über das Schicksal der älteren Familienmitglieder. Laut Liu verfügen die meisten jungen Dorfbewohner nur über ein sehr beschränktes Budget für die medizinische Versorgung ihrer älteren Verwandten. Wenn die Behandlung weniger als 30.000 Yuan RMB (3600 Euro) koste und der Angehörige danach noch mindestens zehn Jahre mit einem Einkommen von 3000 Yuan RMB (360 Euro) pro Jahr leben könne, dann würde eine Behandlung in Betracht gezogen. Ansonsten würden Behandlungskosten als Geldverschwendung angesehen.
„In China sind die Bauern sehr verwundbar. Und am verwundbarsten sind die alten Bauern“, so das nüchterne Fazit des Soziologen.